Keine Noten

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Josef

Keine Noten

Beitrag von Josef »

Analog zu einem parallellaufenden Thema, wo gerade von notenkundigen Leuten das Spielen nach Noten gelobt wird, frage ich hier:

Wie steht ihr eigentlich zum Musizieren ohne Noten? Diese Frage richtet sich vor allem an diejenigen, die nicht nach Noten spielen können und sich auf ihre akustische Erinnerung verlassen.

Mir geht es so, daß ich mich immer für total unmusikalisch hielt, weil ich mit Noten nichts anfangen konnte (genauer gesagt hatten mir die Überzeugung, unmusikalisch zu sein, sämtliche Musiklehrer zu Schulzeiten vermittelt). Hatte fast schon ein schlechtes Gefühl, beim Lagerfeuer zur Gitarre zu greifen, weil bei mir eh musikalisch Hopfen und Malz verloren war (und so beschränkte ich mich auf das Schrubben von Akkorden...)

Dann entschloß ich mich irgendwann für die Harfe (und hielt mich selbst für wahnsinnig). Aber die Harfe mußte einfach sein! Und sie ermöglichte mir das Spielen von Melodien, wie ich sie im Gedächtnis hatte (beispielsweise irgendwelche Bal folk-Melodien, die ich vorher hundertmal bei diversen Tanzveranstaltungen gehört hatte).
Bei meiner Harfenlehrerin hatte ich deswegen aber immer ein total schlechtes Gefühl, da ich mich einfach nicht an die Noten gewöhnen konnte. Sie studierte Konzertharfe, gab mir also Noten und Übungen und zeigte mir die Handstellungen. Ich hatte wenig Probleme damit, das nachzuzupfen, was sie mir zeigte, aber kam überall in Not, wo das Gedächtnis versagte oder wenn ich irgendwelche Übungen spielen sollte, die ich mir nicht vorher eingeprägt hatte. Und immer dachte ich, wenn ich nicht bald das Spielen vom Blatt hinbekomme, wird das mit der Harfe nichts.
Ich langweilte mich also mit irgendwelchen unmelodischen Übungen, deren Klang ich mir im Unterricht gemerkt hatte oder zuhause mühsam und unter hohem Zeitaufwand entzifferte.
Meistens verbrachte ich aber wesentlich mehr Zeit damit, anstatt die Zeit mit dem Entziffern von langweiligen Notenübungen zu verlieren (ich habe heute abend nur zwei Stunden Zeit für die Harfe...), daß ich lieber irgendwelche Melodien spielte, auf die ich gerade Lust hatte. Für letzteres machte ich mir aber Selbstvorwürfe (wieso habe ich jetzt schon wieder die ganzen zwei Stunden nur herumgespielt, anstatt brav die Notenübungen zu wiederholen, ich schaffe das nie...) und im Unterricht kam ich nur schleppend vorwärts. Hoffnungsloser Fall?

Bis ich im Sommer 2002 bei einem Workshop von Janet Harbison merkte, daß Harfenunterricht auch anders geht... daß die Methode, die mir intuitiv näher lag, nämlich hören --> spielen, einfach eine andere, super funktionierende Lernmethode ist.

Inzwischen bin ich froh, irgendwo gehörte Lieder oder Melodiefragmente zwanglos in die Saiten umzusetzen.
Noten betrachte ich in erster Linie als Nachschlagewerk, also ein schriftliches Festhalten des flüchtigen Augenblickes, und eine Möglichkeit, Stücke an andere Leuten weiterzugeben.

Wenn ich selber mit Schriftlichem spiele, so schaue ich meistens nur auf die Akkordbuchstaben, damit die Linke was zum Greifen hat - den Rest spielt die rechte Hand automatisch. Sofern ich das Stück kenne. Was ich nicht kenne, muß ich mir oft anhören, unbekannte Stücke nur aus Noten zu rekonstruieren dauert bei mir ewig. Glücklich die, die das können!
Ich versuche natürlich nach wie vor, hin und wieder Noten anzuschauen und mich mit den schwarzen Kringeln und Strichen anzufreunden (was ohne Zwang auch viel besser klappt als in mit), aber ich schäme mich zumindest nicht mehr dafür, daß ich Melodien nur nach Gedächtnis spiele...

Zum Glück gibt es Lehrer wie Janet, Tom Daun, Merit Zloch, Dominig Bouchaud und die ganzen anderen, die die Methode "hören --> spielen" unterrichten... zum Glück gibt es Harfentreffen und Workshops...

Harfliche Grüße
Josef
Zuletzt geändert von Josef am Di 2. Mai 2006, 00:06, insgesamt 1-mal geändert.
Christian

Beitrag von Christian »

Ich muss dir in dem Fall zustimmen, dass es wichtig ist, wenn man improvisieren kann. Das macht ja eigentlich den guten Musiker aus. So wie Tom Daun sagte: Noten sind nur ein Grundgerüst. Die Kunst des Musizierens besteht darin, aus diesem Gerüst etwas kompaktes und außergewöhnliches zu machen.
Man kann auch nicht von Anfang an nach Noten spielen. Wie Janet auch sagte: Man muss erst die Musik kennen und können, bevor man sich daran macht, das Instrument zu lernen und zu spielen.
Das war immer wichtig für mich!

Doch ab einem gewissen Punkt ist das einfache, nachzuspielende Liedgut einfach nicht mehr befriedigend genug. Dir schreit nach etwas komplexerem. So ging es auch mir und in so fern bin ich froh über die gigantische Notensammlung meiner Lehrerin.

Doch höchste Achtung vor jedem, der auch aus seinem persöhnlichen Eindrücken etwas außerordentliches machen kann - so wie Josef, wie ich in Neuhaus merkte!

Grüße aus dem wieder sonnigen Oberland,
Christian
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Beitrag von skh »

In der traditionellen (irischen) Szene ist es grad andersrum: man koenne, sagt man dort, ein Stueck nur mit den Ohren lernen, und "dots", schwarze Punkte, also Noten, sind verpoent. Die Diskussionen darueber, wer recht hat, mag ich mir eigentlich gar nicht mehr antun und schlage deshalb praeventiv vor, dass die Wahrheit in der Mitte liegt und vom Einzelfall abhaengt :_smile_:

Ich spiele alles - nach Noten (beidhaendig vom Blatt geht allerdings nicht, immer nur Melodieinstrumente gespielt...), nach Gehoer, und improvisiert ohne alles. Letzteres am liebsten, und ich glaube auch am besten.

Sonja
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Martina
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Beitrag von Martina »

Man verbringt doch immer wieder viel zu viel Zeit damit, sich für irgendwas zu schämen. :_rolleyes_:

Als ich in der Big Band gespielt habe, habe ich mich dafür geschämt, dass ich NUR mit Noten spielen konnte. Da habe ich mich gefühlt wie jemand, der am Stock geht, weil er sich freihändig nicht traut. Erst recht konnte mich niemand zur Improvisation bewegen, ich hatte viel zu viel Angst, etwas "falsch" zu spielen.

Nun stelle ich fest, dass ich zwar immer ein Weilchen brauche, mir ein Stück nach Gehör anzueignen (nicht technisch, sondern weil ich mir nichts merken kann). Dann kommt schon die Versuchung, um ein Notenblatt zu betteln. :_rolleyes_: Aber wenn ich dieser Versuchung widerstehe und es dann einmal läuft, dann vergesse ich das Stück auch nicht wieder. :_grin_:

Ich werde das mit dem Gehör auf jeden Fall weiter praktizieren. Ich bewundere Leute, die ihr ganzes Repertoire im Kopf und in dem Fingern haben und nicht immer erst verlegen nach irgendwelchen Noten kramen müssen.
Fachübersetzerin für Musikinstrumente und Tontechnik http://www.martina-reime.de
Mohne

Beitrag von Mohne »

...habe ich mich dafür geschämt, dass ich NUR mit Noten spielen konnte. Da habe ich mich gefühlt wie jemand, der am Stock geht, weil er sich freihändig nicht traut. Erst recht konnte mich niemand zur Improvisation bewegen, ich hatte viel zu viel Angst, etwas "falsch" zu spielen...
Oh wie ich das kenne! Genau so ging es mir mit meiner Querflöte. Auch ich bewundere alle, die einfach so ohne ein Blatt spielen können, die ihr Instrument wie eine fliesende Sprache beherrschen. Ich hoffe sehr, dass ich mit der Harfe irgendwann annähernd so was kann...
Christian

Beitrag von Christian »

Kleiner Tipp zum Üben:
Dreht das ganze mal um! Erst die Musik, dann die Noten.
Experimentiert mit irgendwelchen Liedern. Oft kommen im Radio Lieder mit guten und einfachen Melodien wie zum Beispiel das Lied, dessen Titel ich mir nie merken kann... Das is natürlich jetz ein schlechtes Beispiel...! Is ja eigentlich garkeins! :_huh_: :_rolleyes_: :_smile_:
Und dann schreibt das Stück auf!
Josef

Beitrag von Josef »

@ Christian:
ja, genau sowas habe ich in der letzten Zeit probiert - ein paar Melodien, die im Gehirn abgespeichert sind, mit der Hilfe von Harfe, Papier und Bleistift in Noten aufzuschreiben (was eine Zeitlang gedauert hat, aber zunehmend leichter wird). Jetzt kann ich die Stücke zumindest auch solchen Leuten weitergeben, die gerade kein Aufnahmegerät mithaben.

Gibt es hier noch andere, die nur nach Ohr spielen?

Josef
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merit
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Beitrag von merit »

Hallo, jetzt muß ich mal Simon Wascher zitieren ;-):
"Noten sind ein Versuch, musikalische Phänomene zu erklären und niederzuschreiben - nicht umgekehrt. " Sicherlich ist es z.B. in der Klassischen Musik (ich meine das nicht übertragen, sondern als Definition) anders, da sie in meinen Augen sehr ordnungs- und konzeptionsfixiert ist.
Meine Erfahrung mit Nicht-Nach-Gehör-Spielern ist übrigens die: Hat man es erst einmal geschafft, ihnen die Noten wegzunehmen :-), spielen sie oft besser nach Gehör als man selbst, da sie oft
eine gute Gehörschulung durchlaufen und oft jahrelang jeden Tag intensiv ihr Instrument gespielt haben. Das bringt unterbewußt sehr, sehr viel ein. Warum nur funktioniert das nicht auf umgekehrt bei Nicht-Noten-Lesern.....
Herzliche Grüße, Merit Zloch
Zuletzt geändert von merit am Mi 3. Mai 2006, 14:33, insgesamt 1-mal geändert.
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