Stimmungen / Temperaturen

Meeresbrise
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Re: Stimmungen / Temperaturen

Beitrag von Meeresbrise »

annunziato hat geschrieben:Das Büchlein kenne ich leider nicht, das wird in der derzeitigen Szene nicht stark zitiert. Bei Michaelstein würde ich immer erstmal mit positivem Bias davon ausgehen, dass es "solide" ist - allerdings ist gerade in dem Bereich Temperaturen in den letzten 20 Jahren eine Menge an Wissen wieder gefunden und aufbereitet worden, was damals vermutlich noch nicht zur Verfügung stand.
Neugierige Frage: Was wird denn derzeit zitiert, bzw. was wären gute und aktuelle Beiträge zu dem Thema, wenn man sich mal einlesen will?
annunziato
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Re: Stimmungen / Temperaturen

Beitrag von annunziato »

Ein "moderner Klassiker" zum Thema, das ich zum Einlesen am liebsten empfehle, ist das von mir hier bereits mehrfach zitierte
Ross W. Duffin, "how equal temperament ruined harmony - and why you should care",
von 2008, gibt's mittlerweile als Taschenbuch.
Die Mathematik kommt noch etwas zu kurz, aber es ist ziemlich umfassend und genau.
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Re: Stimmungen / Temperaturen

Beitrag von Meeresbrise »

Hm, diese Rezension überzeugt mich jetzt nicht unbedingt von dem Buch:
http://scholarship.claremont.edu/cgi/vi ... ontext=ppr

Mich würde eher was Praktisches interessieren, wie z.B. Bläser und Streicher (die reine bzw. pythagoräische Stimmung bevorzugen) mit Tasteninstrumenten und Harfen zusammenspielen können und welche Stimmungen in welchen Situationen zur Anwendung kommen sollten (z.B. nach Epochen).

Wobei die Erkenntnis, dass z.B. mitteltönige Stimmung für eine Canzon Chromatica von Trabaci sinnvoll wäre (weil dann die Chromatik viel dramatischer und spannender klingt) nur bedingt hilfreich ist, wenn die mitteltönig gestimmte Orgel nur an einem bestimmten Ort steht und dann noch in 415 Hz gestimmt ist (warum auch immer). Umgekehrt haben temperierte Stimmungen viele musikalische Werke überhaupt erst möglich gemacht (ich denke da z.B. an Bach).
annunziato
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Re: Stimmungen / Temperaturen

Beitrag von annunziato »

Haha, der Rezensent hat auch einen Bias. (klassisches "mit akademischem Gruss - ..." :-)) Und Duffin hat noch die eine oder andere Unkorrektheit, die aber nur wenige Leute interessiert.
Tja, das Problem ist - wenn man sich mal praktisch mit allen anderen Stimmungen befasst hat, kommt man schwer dazu, ET wieder zu mögen, ausser man hat seinen Schwerpunkt bei Mahler, Schönberg, Hindemith.
Dennoch: Duffin hat den Vorteil, dass er mit seinem historischen Approach gut zeigt, welche Stimmungen mit welchen Epochen zusammenhängen, und er ist eine gute Einführung. Das hilft natürlich schon mal.
Das praktische Lehrbuch "welche Stimmungen, welche Epochen, welche Instrumente(nkombinationen)" gibt's leider noch nicht... (Auf dem stark professionalisierten und tendenziell eher (sehr) kleinen Markt der "Alten Musiker", die sich für diese Fragen interessieren, gab es bislang nach meiner Wahrnehmung diesen Bedarf schlicht nicht - aber das kann sich ja ändern, wenn es auch Eingang in den "Breitensport" findet. Sollte mal jemand schreiben...) Auch wenn ich die Frage verstehen kann.
Relativ einfach ist:
- Verschiedene Temperaturen gleichzeitig passen nicht zusammen. Klavier in ET und mitteltönige Harfe geht nicht, Punkt.
- Instrumente aus verschiedenen Epochen passen selten zusammen (Viola d'amore und Klavier, wegen nicht passender Obertonspektren)
- Blasinstrumente haben zumeist "reinere" Obertonspektren und können sich häufig leichter an reinere Temperaturen anpassen (wie immer with a grain of salt - natürlich sind moderne Oboen und Klarinetten auf Orchesterklang in ET ausgerichtet)
- gewürzte Dissonanzen in Alter Musik sind in historischen Temperaturen auch oft gewöhnungsbedürftig - je weiter man sich vom jeweiligen tonalen Zentrum entfernt, umso mehr bezahlt man das mit "falsch klingenden" verzerrten Intervallen. Nicht jeder mag das "Zerfliesse mein Herze" aus der Johannespassion in Viertelkomma oder Kirnberger mit "Original"-Holzbläsern - das soll "schmerzlich-falsch" klingen und tut das auch. Auch dazu gehört dann der entsprechende historische Kontext der "Klangrede" - dieser "schiefe" Charakter ist eine Affekt-Vokabel wie vieles Andere im Barock.
- Bei mitteltönigen Orgeln in 415 hilft bloss: Ebenfalls Instrument in 415, und sorgfältig Tonleitern abgleichen... Meistens gehen Blockflöten und Oboen ganz gut dazu, Streicher müssen ihre Gewohnheiten praktisch komplett umstellen, und Harfen muss man Ton für Ton stimmen. Wenn's ne tolle Barockorgel (Schnitger, Silbermann & Konsorten) ist, gehen schwer gebaute Harfen (Einfach- und Doppelpedal, Hakenharfen mit starker Spannung wie Salvi und Camac) wegen des Obertonspektrums meistens nicht besonders gut, leichte (wie klangwerkstatt) funktionieren meist. Meine alte Woran funktioniert z.B. gar nicht gut zusammen mit Barockorgeln, ausser witzigerweise im Bass, weil sie da starke sehr saubere gute Quint- und Terzobertöne hat.
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Re: Stimmungen / Temperaturen

Beitrag von Meeresbrise »

Du schreibst als gehst du davon aus, ET sei eine "moderne" Erfindung.

Wenn ich Mark Lindley in seinem Beitrag "An historical Survey of Meantone Temperaments to 1620" (die Zeit, die mich im Moment am meisten interessiert) richtig lese, war ET aber schon viel früher bekannt.

Er schreibt z.B.: "Most writers after 1550 regarded lutes and viols as equal temperament instruments" und beschreibt, wie sich Lautenisten routinemäßig an die mitteltönig spielenden Tasteninstrumente anpassten.
Also war ET zu der Zeit schon bekannt, es wurde nur nicht bevorzugt.

Deinen "einfachen" Punkten kann ich folgen, wir spielen allerdings ausschließlich auf historischen Instrumenten (mit Ausnahme der Orgeln), und zwar in 440 Hz (als pragmatischer Kompromiss zwischen 465, 440 und 415 Hz).
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Re: Stimmungen / Temperaturen

Beitrag von Der Juergen »

Hier wenige Zeilen aus dem genannten Büchlein (mit den jeweiligen Seitenzahlen), die ich von dem Leihexemplar kopiert hatte.

(S. 131)
Das gleichstufige System ist, und das mag verwundern, das älteste 12-Tonsystem.
[…]
Alle anderen Temperaturen waren Ergebnisse der Praxis und des musikalischen Bedarfes und wurden meist nach ihrer allgemeinen Einführung erst festgehalten.
Die gleichstufige Temperatur war die meiste Zeit theoretischer Diskussionsstoff. Die ersten Nachrichten finden sich in alten chinesischen Schriften.


Dann geht es kurz über Aristoxenos (354–300 v. Chr.) und dass er das siebentönige griechische System auf Gleichstufigkeit berechnete – und dann weiter:

In Europa findet sich die Gleichstufigkeit als theoretischer Stoff im 16. Jahrhundert wieder.

[…]

(S. 132)
Bezeichnenderweise sind es bis ins 18. Jahrhundert meist Mathematiker, die sich mit dem Problem der Gleichstufigkeit beschäftigen.

[…]

(S. 133)
Mit der grundtönigen Orientierung des Klanges aller Instrumente ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Weg für die Gleichstufigkeit endgültig frei, da nun die unharmonischen Störungen nicht mehr in dem Maß wie vorher hörbar wurden.
#HarpistsForFuturewww.harfenzeit.dewww.harfenbaukurs.de • harfenwinter.de • harfensommer.de • harfenmai.de
Das Ziel ist das Ziel.
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Re: Stimmungen / Temperaturen

Beitrag von annunziato »

... Es ist noch ein bisschen komplizierter. Natürlich interagieren theoretische Konzepte und die jeweiligen historischen Strömungen.
Bereits das seit dem Spätmittelalter gängige Notationssystem verweist ja praktisch schon auf das prinzipielle Konzept eines gleichstufigen Systems, das einen "Quintenzirkel" ermöglicht. Dass man grundsätzlich auf solche Konzepte stösst, wenn man über Bordunmusik und eine Oktave hinausgehen möchte, ist ja zumindest intuitiv einsichtig.
Aber: Man konnte es nicht sauber umsetzen und einstimmen, man stiess auf die (auch mathematisch ja einfach ableitbaren und gut bekannten) "Kommata" - und man hatte genau das Problem, dass die ungefähr hergestellte Gleichstufigkeit mit den damaligen Instrumenten mit sehr klaren reinen Obertonspektren einfach gruselig klingt.
Die mathematische Beschreibung der Gleichstufigkeit brauchte dann aber die irrationalen Zahlen mit dem Konzept der Grenzwertbildung für die Wurzelziehung, und das gab's halt auch erst später. Was die frühen Chinesen schon hatten, darüber können wir leider nur spekulieren - wenn man bereits an den wunderbaren eleganten geometrischen Beweis zum Pythgoras denkt, sollte man ihnen da einiges zutrauen... (Da bin ich in der aussereuropäischen Geschichte der Mathematik leider nicht firm, vielleicht ist das auch schon irgendwo aufgearbeitet.)
Insofern haben sich Instrumente, Temperaturen (in der jeweiligen theoretischen Grundlagen und umgesetzt) und Musik natürlich "ko-evolutiv" gegenseitig beeinflusst und entwickelt.
Aber wirkliche strenge Umsetzung und breite Einführung der ET als Standard gibt's auch erst seit der Spätromantik und den entsprechenden Instrumenten und grossen Sinfonieorchestern.
Und, wie wir es schon vor ein paar Jahren hatten: Die "Renaissance" der Temperatursysteme zusammen mit den entsprechenden Instrumenten und Spektren hat halt gezeigt - wer mal der Magie des reinen Dreiklangs ausgesetzt war, erliegt ihr leicht und will ungern wieder zurück ... (Auch wenn damit dann ganz viel vom Jazz nicht zu machen ist - aber das ist wieder eine andere Geschichte.)
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Re: Stimmungen / Temperaturen

Beitrag von Meeresbrise »

Die Magie des reinen Dreiklangs ist ja für Sänger, Streicher und eigentlich auch für Bläser ganz normal.

Wir haben eigentlich erst angefangen uns damit zu beschäftigen, weil auf einmal alles mitteltönig sein sollte. Dann haben wir uns daran gewöhnt und stellen dann fest: Wenn wir mit den vorhandenen Orgeln spielen wollen, geht mitteltönig nicht. Und eine Harfe kann man leider auch nicht so auf Knopfdruck umstimmen.
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Re: Stimmungen / Temperaturen

Beitrag von annunziato »

Meeresbrise hat geschrieben:Die Magie des reinen Dreiklangs ist ja für Sänger, Streicher und eigentlich auch für Bläser ganz normal.

Wir haben eigentlich erst angefangen uns damit zu beschäftigen, weil auf einmal alles mitteltönig sein sollte. Dann haben wir uns daran gewöhnt und stellen dann fest: Wenn wir mit den vorhandenen Orgeln spielen wollen, geht mitteltönig nicht. Und eine Harfe kann man leider auch nicht so auf Knopfdruck umstimmen.
Nein, ist sie eigentlich gar nicht. "Normale" Streicher und Bläser lernen im Allgemeinen keine reinen Dreiklänge und optimieren auch nicht darauf, sondern bei den meisten Geigern gilt immer noch "lieber zu hoch als falsch" (ständig zu grosse grosse Terzen und Leittöne), man stimmt nicht in reinen Quinten, sondern in Klavierquinten. Abgesehen davon, hat der reine Dreiklang mit modernen Instrumenten mit ihren Schwebungswolken auch nicht die Magie, die er mit Instrumenten mit reineren Obertonspektren hat. Selbst in höchstklassigen Streich- und Bläserquartetten wird viel gleichschwebend gespielt, weil das einfach in den Hörgewohnheiten so drin ist. Bei der Bläserkammermusik kommen öfter mal tatsächlich reine Dreiklänge (zumindest in den Schlüssen) vor, weil man das da noch deutlicher hört und auch nicht so viel Vibratososse dabei ist.
Sänger und Chöre müssen im allgemeinen andere Temperatursysteme richtig neu lernen und lange auf reine Akkorde und Intervalle trainieren, weil die ganze Ausbildung und zumeist auch Proben ja mit Klavieren stattfindet. Der reine Dreiklang kommt bei Weitem nicht (mehr) intuitiv von selber, sondern die tiefe Durterz muss man ein paar mal sehr bewusst machen, bevor sie drin ist. Wenn man sich "konventionelle" und "historisch informierte" Aufnahmen ein und desselben Stücks (z.B. Mozart Requiem) anhört, fällt das direkt auf.

Und es stimmt natürlich: "Normale" Orgeln sind i.a. nicht mitteltönig, dann fliegen die ganzen schönen Ideen zum Fenster raus. Also Cembalo oder Spinett nehmen oder perspektivisch kleine mobile Orgel anschaffen. Geht natürlich nicht so einfach. Die Harfe kann man da noch einfacher umstimmen. Aber wie gesagt: Bei schwereren, "moderneren" tut man sich damit gar keinen Gefallen.
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Re: Stimmungen / Temperaturen

Beitrag von Meeresbrise »

Hm, vielleicht kommt es darauf an, in welchen musikalischen Kreisen man sich bewegt?
Die Chorsänger die ich kenne arbeiten sehr konsequent an der reinen Intonation (zumindest vertikal, horizontal weiß ich nicht genau) und spielen auch nicht mit Klavier, sondern mit historischen Instrumenten (inkl. einer entsprechend gestimmten Truhenorgel). Und bei historischen Instrumenten ist man sowieso ständig mit der Intonation beschäftigt, weil man Fehler sofort sehr deutlich hört. Intonation auf der Blockflöte (ein oft vernachlässigtes Thema, zugegeben) orientiert sich auch eher an reinen Stimmungen als am gleichschwebenden Ideal. Gerade bei Blockflöten hört man Schwebungen und Kombinationstöne ja extrem deutlich und das lässt sich auch nicht durch Vibrato ausgleichen.
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