Rainer M. Thurau hat geschrieben:
Ich weigere mich davon ausgehen zu sollen, daß Hildegard von Bingen sich zurückgezogen hat und ohne instrumentale Begleitung , ohne einer Art von Notierung und ohne eine Möglichkeit der Wiederholbarkeit ihrer musikalischen Eingebungen komponiert haben soll. dies ist bar jeder Logik und Machbarkeit !
Wir dürfen bei einstimmiger mittelalterlicher Musik vor dem Jahr 1200 nicht von einem "Kompositionsvorgang" ausgehen. Hildegard lässt doch auch verlauten, sie habe die Melodien von Gott empfangen. Glaubt man der Legende, hatte sie Visionen, in denen Gott sich ihr mitteilte - da wird sie kaum den Notizblock neben sich gehabt haben, um alles direkt festzuhalten...
Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mit einem Instrument egal welcher Art irgendwo saß, die Wachstafel neben sich, sinnierend, was gut klingen könnte und wie man das schriftlich fixieren würde... der Neumen wähne ich Hildegard nicht kundig.
Nein, mir erscheint es plausibler, dass sie Melodien gesungen hat, die ihre Schwestern wiederholt haben. Was vielen gefiel, wurde öfter gesungen - das Gedächtnis der Menschen damals muss ganz anders gewesen sein als unser heutiges. Wir werden ständig von Reizen abgelenkt, das kann man gar nicht vergleichen. Aufgeschrieben wurde erst viel später.
Dass sich Melodien in der oralen Tradition auch veränderten (was auch von Hildegards Musik anzunehmen ist), macht die Musik ja nicht schlechter.
Erst heute habe ich in einem Seminar über frühe Polyphonie des lateinischen Mittelalters etwas gehört, das ich sehr interessant und bedenkenswert fand. Ich kann es jetzt nicht so gut wiedergeben, aber es ging ungefähr so:
In nicht notierter Musik ist erstmal alles möglich - und Notation musste folglich alles festhalten können, was musikalisch ausgedrückt wurde.
Die Verschriftlichung von Musik hat also auch die Musik und das musikalische Denken verändert.
Sind wir in unserem "heutigen" Denken (z.B. durch Taktarten) nicht sehr eingeschränkt?
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Übrigens ist im September eine neue CD von Ars Choralis Coeln (unter der Leitung von Maria Jonas) mit einer eigenen Interpretation des Ordo Virtutum erschienen. Ich habe bisher nur kurz reingehört, da mir bislang die Muße für diese Musik fehlte, aber es ist schon ziemlich anders als die mir bekannte Aufnahme des Ensemble Sequentia von 1982.