annunziatos Exkurse ...

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annunziato
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annunziatos Exkurse ...

Beitrag von annunziato »

Im Folgenden stelle ich nochmal die Exkurse aus einem mittlerweile gelöschten Thread, leicht gekürzt und entpersonalisiert, zusammen.
Ich weiss, ich habe immer noch den Job gefasst, ein paar "Kriterien" für den Gesangsunterricht zusammen zu stellen, muss da aber noch um etwas Geduld bitten. ..

-----------------Zur Frage, ob man sich mit der Klangvorstellung "Gesang" anfreunden kann ---------------------
Ja, das hat man häufig, dass Leuten aus dem Bereich Pop / Folk / Jazz der "klassische" Opernklang ein Graus und alles andere als
ein anzustrebendes Ideal ist. Dazu muss man sagen, dass die "klassische" Technik grundsätzlich dafür gemacht ist, aus der Stimme
viel Volumen und Ausdruck, gerade für grosse Räume und starke Belastungen rauszuholen. Dabei gibt's dann häufig grosses Vibrato,
schlampiges Glissando, schlampige Intonation und sowas. Das sind aber häufig "Nebenwirkungen" und auch Marotten und nicht
die Hauptsache. Es gibt ja auch Lied- und Oratoriengesang und Alte Musik, die ein anderes Klangideal pflegen, häufig das der klaren,
schlanken und flexibel geführten Stimme (z.B. Emma Kirkby, Harry van der Kamp - ein toller sonorer Bass ohne Opernallüren,
Magdalena Kozena mit ihren Bach-Aufnahmen,...) Wenn man z.B. den Soundtrack des Lord of the Rings-Filmwerks anhört: Da gibt es
Ben del Maestro (Knabensopran) im zweiten Teil und eine auf ätherische weiche Geradeheit geschliffene Renee Fleming im dritten
Teil. Das heisst: Man muss nicht auf den Opernklang hinarbeiten (der kommt eh erst nach einigen Jahren harter Arbeit), aber es
würde schon Sinn machen, eine/n Lehrer/in zu haben, die die jeweiligen Klangideen respektiert. Ziel sollte sein, die Stimme zu
fokussieren und weiter zu machen sowie um klare Vokale und klangliche Möglichkeiten zu bereichern. Und das berühmte Legato, den
Fluss der Stimme zu lernen, ohne sie physiologisch immer wieder durch Konsonanten, Artikulation und Ausdrucksmittel
"abzuklemmen", sondern alle diese Ausdrucksmittel auf einem guten Atem- und Stimmfluss anzuwenden, ist eben hilfreich und
entlastend, führt dazu, dass man stundenlang singen kann. Man kann dann immer noch andere (z.B. verhauchte oder rauhe)
Klangelemente einsetzen, aber eben bewusst und als Farbe, und es sollte auch nicht ermüden.
Grundsätzlich strebt die klassische Technik eine Balance aus Spannung und Entspannung an: Das Atemvolumen wird durch Weitung
und Halten des gesamten Atemraums (Bauch, Rücken und Brustraum) erhöht, Hals und Stimmbänder sollen weit und entlastet sein,
aber alle Resonanzräume werden aufgespannt und aktiviert. Singen ist Hochleistungssport und soll gleichzeitig nicht anstrengend
sein, toll was?

Auf der Suche nach einem Lehrer sollte man sich durchaus Zeit lassen: vielleicht gibt es ja Studenten oder Studentinnen, die auch
heimlich in Richtung Alte Musik, Folk, Improvisation oder so gucken.
Wenn man arg viel Angst vor "Gesang" hat, kann man es auch mit Logopädie probieren (und auch da mit Studenten): Ich denke, es
kann sehr sinnvoll sein, sich unabhängig vom Singen mit der Ton- und Lautproduktion zu beschäftigen, allein um die Stimmbänder
zu entlasten. (Gut geatmet ist halb gelebt ;-)!)
Nur durch Harfe spielen lernt man Harfe spielen. (Aristoteles)
annunziato
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annunziatos Exkurse #2...

Beitrag von annunziato »

--------------------Beispiele für Popsänger mit "Technik" -------------------------------
Ein gutes Beispiel für jemanden, die klanglich sicher das macht, was sie möchte, und das auf einer soliden Technik absichert, ist die
skandinavische Jazz-Sängerin Rebekka Bakken. Die hat auch rauhe Töne und haucht manchmal ganz schön - aber eben als Teil in
ihren Farbspektren. Wenn sie will, kann sie auch einen harten Klang machen - aus meiner Sicht hat sie durch ihre Ausbildung und
"Stimmsouveränität" die Möglichkeit, mit viel Klangoptionen zu spielen, ohne sich kaputt zu singen.
Ein Gegenbeispiel ist Sting: er hat mittlerweile eine ziemliche Reibeisenstimme, und den Dowland fand ich alles andere als
überzeugend. Aber auf der neuen Winterlieder-CD merkt man dennoch, dass da ein Gesanglehrer gute Arbeit geleistet hat, im Rahmen
seines Stimmklangs verfügt er über bessere Aussprache, Liniengestaltung und letztlich mehr und subtilere Ausdrucksmöglichkeiten.
Aber er hat seine Stimme mittlerweile so verschlissen, dass er vermutlich nur mit sehr viel Arbeit und Schweigen jemals wieder
einen flexibleren und weniger reibeisenartigen Klang bekäme. Wenn man die frühen Aufnahmen hört - da hatte er sehr viel mehr
klare Töne (auch in der Höhe, auch nicht immer so gepresst wie später) und auch z.T. weiche Farben in den Balladen.
Nachtrag: Ich habe letzthin eine Neuaufnahme von "Shape of my heart" gehört, das er mit Marielle Labecque eingespielt hat - der
Mann entwickelt nicht noch zum Liedsänger. Ab und zu hört man richtig Klang in der Reibeisenstimme. Sehr interessant, wobei ich
nicht genau weiss, ob man _das_ zu einem authentischen Ideal bekommt...
Also: Ich stimme mit den Lehrerinnen überein, dass es ziemlich ungesund ist, wenn man nur den verhauchten Ton mit rauhem Ansatz
hat, da sollte man daran arbeiten, den Stimmbändern ihre Arbeit zu erleichtern und sie zu entlasten. Und auch wenn man in eine
klassische Technik hineinschnuppert, sollte der Lehrer eigentlich immer sagen, dass es nicht zwingend opernhaft klingen muss, und
dass man selbstverständlich jederzeit zu dem anderen Klang zurückkehren kann. (und er / sie wird sich denken: "Aber wenn der
Unterricht gut war, wird er/sie es nicht mehr wollen"... ;-))

zu Cynthias Bemerkungen:
Nina Hagen hat die volle Dröhnung Opernausbildung mit voll ausgebildetem Pfeifregister, vermutlich konnte sie nur deshalb so "rock-röhren", ohne sich die Stimmbänder zu Fetzen zu singen. Gianna Nannini hat auch einiges an "Voll-Technik".
Yma Sumac hat der Legende nach erstmal selbst die Vögel und sonstiges Getier nachgemacht und sich so ihre Stimme aufgemacht (ich finde ja das Bassregister faszinierend, es klingt ja nicht nach mongolischen Kehlgesang, sondern nach reiner Stimmbandschwingung - wie sie die Stimmbänder so lang kriegt?), und hat später noch eine klassische Gesangsausbildung genossen. Ich weiss allerdings nicht, ob es Aufnahmen von ihr ohne diese Ausbildung gibt.
Zuletzt geändert von annunziato am Di 23. Feb 2010, 19:24, insgesamt 1-mal geändert.
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annunziatos Exkurse #3...

Beitrag von annunziato »

----------------Frage von Prioritäten bei "Harfe" und "Singen"------------------------
Hintergrund: Begrenzte Mittel und begrenzte Zeit, aber Leidenschaft für beides und eine angegriffene Stimme:
Nach meiner persönlichen Erfahrung kommt man mit kleinen Harfen auch mit wenig Unterricht und Anregungen ziemlich weit, wenn
man vorher schon gelernt hat, wie "Musik geht", und Klavier- und Streichkenntnisse sind auch extrem hilfreich. Da kommt mensch
mit einem Anfängerkurs auf irgendeinem Harfentreffen und einer guten Schule (Pampuch oder das gute Buch von Rheidun, das auch
hier im Forum besprochen wird), schon ziemlich weit. Da geht's also eher um die Investition in die Harfe, die auch mit Baukurs oder Leihen ein
bisschen steuerbar sind. (Wenn man nicht gerade 8 Stunden am Tag übt und halbwegs gesund ist, nehmen Harfe und Physiologie es
nicht sehr krumm, wenn man so spielt, wie die Finger gewachsen sind ;-). Bei Harfen mit hoher Saitenspannung gilt das allerdings
nicht, da solltest mensch sich schon einmal die Handhaltung zeigen lassen und erläutern lassen, worauf zu achten ist, sonst können
Sehnen und Gelenke was krumm nehmen.)
Das Singen, gerade wenn man schon mit stimmlichen oder physiologischen Herausforderungen zu kämpfen hat, sollte eher mit
regelmässiger Begleitung erfolgen, da hier die Gefahren grösser sind, dass irreversible Schäden erzeugt werden und es damit für die
angestrebten Zwecke auch kontraproduktiv ist (zu deutsch: dass es schlimmer wird). Das hat was damit zu tun, dass Innen- und
Aussenklang sehr unterschiedlich sein können, und man auch die Wahrnehmung trainieren muss - häufig kriegt man anfangs selbst
nicht so genau mit, was (physiologisch) "richtig" ist.
Vieles was man im Gesangsunterricht macht, ist ja eh gelegentlich etwas "schräg", weil man mit Gesamtfunktionalitäten arbeiten
muss, die dem willentlichen Impuls nicht zugänglich sind, sondern die über das vegetative und emotionale Nervensystem
angesprochen und gesteuert werden. Es macht Sinn, sich darauf "ein Stück weit" einzulassen, und zu schauen, ob man die Umsetzung
hinkriegt und ob sich das gut anfühlt.

Klar ist Geld immer ein Problem, aber man kann ja überlegen, ob man nur alle zwei oder drei oder vier Wochen eine Stunde nimmt,
mit der Lehrerin / dem Lehrer bespricht, was man üben kann (und was nicht, auch ganz wichtig bei langen Intervallen und
physiologischen Problemen!) - aber hier würde ich eine regelmässige Begleitung sehr empfehlen. Man kann beim Singen mehr
falsch machen als beim Kleineharfespielen!
Nur durch Harfe spielen lernt man Harfe spielen. (Aristoteles)
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Jariella
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Re: annunziatos Exkurse ...

Beitrag von Jariella »

... vielen Dank annunziato. Obwohl ich auch große Hemmungen vor dem Singen habe, überlege ich nun aufgrund Deiner Ausführungen ernsthaft, ob ich mir nicht doch ein paar Stunden Gesangsunterricht gönne, bzw. bis ich das mal einrichten kann, mein Schnabel nicht (so weit) aufreiße.

Mir fällt zu dem Thema Harfe und Gesang ein, daß der Gesang helfen kann zum Beispiel die Melodienhand beim Harfenspiel lauter werden zu lassen gegenüber der Baßhand. Bei mir sind zur Zeit häufig beide gleich laut oder die Baßhand sogar noch lauter als die Melodie. Da soll es helfen, die Melodiehand mitzusingen, so daß man automatisch auch lauter wird mit der Hand.

... so, kaum mit der Harfe angefangen, kommen schon wieder neue Ideen, in welche Richtung man gehen könnte. Nochmals vielen Dank für die Ausführungen.
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