EDIT: Danke an Jonny, du hast einiges vorweggenommen, ehe ich fertig war
Es reizt mich doch, hier auch meinen Senf dazuzugeben.
Ich kann das mit der subjektiv empfundenen Ausgrenzung »diese Menschen« durchaus verstehen.
Jetzt kommt das dicke Aber …
Ich selbst bin behindert, da beißt die Maus keinen Faden ab, eine (zum Glück im Moment kaum merklich) fortschreitende Muskelerkrankung lässt mich kaum mehr Dinge erleben, die mir früher sehr viel Freude bereitet haben: In der Bretagne mal eben 30, 35 km wandern gehen oder auch schwerere Gegenstände von A nach B transportieren zu können. Jetzt bin ich froh, wenn ich 350 m ohne Gepäck hinter mich bringe.
Und in meinem »früheren Leben« (bis 30) war ich schwer alkoholabhängig und bin froh, dass ich es überlebt habe.
Wie gehe ich selbst damit um?
Aus den beiden kurzen Einlassungen hier kann man das schon entnehmen. Ja, ich war (die Anonymen Alkoholiker würden sagen »ich bin«) Alkoholiker und ich bin körperbehindert, außerdem deutlich adipös und was weiß ich noch.
Wenn mir einer sagt, »du warst Säufer«, dann kann ich gar nicht anders, als zu denken: »Endlich, endlich spricht es mal einer ungeschönt aus«.
Die Tatsache, den Zustand kann man gar nicht drastisch genug ausdrücken.
Oder »dick« oder wegen mir »fett« und nicht »untersetzt« etc.
Mich nervt es geradezu, wenn (mich) einer mit Euphemismen umschmeichelt, nur um verbal nicht das auszudrücken, was es ist.
Ich verstehe (rational) aber auch, dass es nicht jedem leichtfällt.
1981 gab es in Dortmund ein Krüppeltribunal!
Ja, genau so haben es die Behinderten die dort die Zustände in der Bundesrepublik angeklagt haben, genannt.
Selbst!
Sie selbst wollten sich erklärtermaßen als Krüppel bezeichnen, nicht aber von anderen so bezeichnet werden, so sagte mir zumindest eine Teilnehmende später, als ich nach der Namensgebung fragte.
Ich war damals als Videodokumentarist dabei, weil mich einige Behinderte kannten und mich drum baten, das mitzudrehen, als einer der recht Wenigen, der in der »alternativen Szene« über das Equipment und Know-how verfügten.
Die Zeiten sind andere, freilich, aber was mich an Menschen interessiert, ist die Energie, die sie in sich tragen (bloß nicht esoterisch verstehen).
Wir sind gesellschaftlich viel, viel weiter, als vor 50, 40, 30, 20 Jahren. Heute kann ich mit Freunden (selbst dann, wenn es »nur« Facebook-Freunde sind) relativ schnell und offen über eigene Suchterkrankungen, Depressionen, körperliche Behinderungen und Weiteres reden oder »chatten«. Meine Herren, was hätte das vor zwei Jahrzehnten noch einen Bohei ausgelöst.
Manche Dinge, wie die mich sehr nervende oberflächliche »political correctness« verhindern in meinen Augen geradezu, dass man sich dem Wesentlichen, dem Wesen des Einzelnen, dem Menschen annähert, indem (in meinen Augen) vor allem nicht Betroffene darüber diskutieren, ob nun Neger (vor allem im Kinderlied), Schwarzer, Schwarzafrikaner, Farbiger, Angehöriger einer dunkelhäutigen Ethnie oder was auch immer (Frage: »Wie heißt es denn im Moment korrekt?«) tolerabel ist oder nicht … das nur als Beispiel für all die anderen Dinge.
Als ein Berliner Bürgermeister (Wowereit) öffentlich aussprach »Ich bin schwul, und das ist gut so!«, war das noch ein kleiner Aufreger, zig Jahre zuvor hatte Rosa von Praunheim den Film »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Gesellschaft, in der er lebt.« gedreht, unter miserablen Bedingungen, es war strafbar, homosexuell zu leben.
Heute ist es weitgehend wurscht, ob man homosexuell, schwul ist – und, was ebenso wichtig ist, ob es so benannt wird.
Ich wünschte mir eine Welt, in der nicht das Wort zerpflückt wird, sondern man einen Millimeter dahinter schaut … auf den Menschen.
Und in der die Menschen selbstbewusst genug sind, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, wenn sie selbst gemeint sind.
Liebe Grüße
Jürgen
PS: Auf Petra/»bramosia« freue ich mich sehr, wir werden uns in ein paar Tagen kennenlernen.