Die Zauberharfe von Dr. Stanislav Burachovič
(böhmische Volkssage aus dem Karlsbader Gebiet)
Lange ist es her, da begab es sich eines nachts, daß ein alter müder Harfenspieler unter die Burg Neudek kam. Er bat die Burgwache, ihn hineinzulassen, um auf der Burg Harfe zu spielen und zu übernachten; seine Bitte wurde aber grob abgelehnt, mit der Begründung, daß nachts Fremden kein Zutritt in die Burg gewährt wird - er solle bis zum nächsten Morgen warten! So blieb dem Greis nichts anderes übrig, als sich im Wald unter dem dunklen Burgturm zum Schlafen zu legen. Seinen einzigen Besitz, die Harfe, legte er sich neben den Kopf. Überwältigt von der langen Wanderschaft schlief er bald ein, vom Flüstern der spielenden Wellen der Rohlau in den Schlaf gesungen.
Leise rauschte der Wald, im Tal herrschte Stille und Frieden... Als aber vom Wandelgang des Turmes die Burgwache mit dem Tröten ihres Horns die Mitternacht ankündigte, lebte plötzlich die Natur auf: Die Geisterstunde war gekommen. Jede Nacht stieg aus den Wäldern unter dem großen Felsen eine reizende Fee hervor und sang ihre schönen Lieder, so auch in dieser Nacht, von der ich erzähle: Vorsichtig nahm sie die Harfe des schlafenden Musikanten und untermalte mit den ausgesprochen lieblichen Tönen dieses Instruments ihren Gesang. Das alles sah der alte Mann im Traume, und er streckte die Hände nach der zauberischen Erscheinung aus; jedoch gab ihm die Fee nach einem Weilchen die Harfe zurück und verschwand in den Wellen des Burgweihers...
Der Harfner schlief dann in tiefem Schlaf bis zum strahlenden Morgen, an dem er endlich in die Burg hineingelassen wurde. Der Burgherr und seine Gefolgschaft forderten ihn auf, daß er sie mit seiner Kunst belustige; so begann er zu singen und Harfe zu spielen. Schon nach den ersten Tönen erstummten die Ritter vor Staunen, und selbst der Musiker war erstaunt: Aus dem Instrument verströmten wie von selbst Melodien von nie gekannter Schönheit! Doch auf einmal donnerte es mächtig, unheilverkündende Blitze begannen den Himmel zu kreuzen und man bekam den Eindruck, als würde die Burg bald vom Erdboden verschluckt! Starker Brausewind hatte die Rohlau aufgestaut: Ihre Wellen brachen sich schlagartig am dunklen Felsen und stiegen stetig höher, und der Himmel verdunkelte sich; die Herrschaften auf der Burg standen bleich da und zitterten vor Entsetzen. Nur der Burgherr wurde purpurrot vor Wut: Er entriß dem Alten die Harfe und mit einem Fluch warf er sie durch das Fenster in die schäumenden Wellen des Burgweihers. Auf einmal wurde ringsum alles still. Doch dann erklangen vom Turm Alarmrufe; die noch vor Angst gelähmten Herren rannten im Wirrwarr zu ihren Waffen. Es war aber bereits zu spät, die Burg wurde vom Heer des Grafen von Schlick erobert, das die Unachtsamkeit der Wache während des Spiels des Harfners ausgenutzt hatte. Lange Monate hatten die Soldaten auf eine solche Gelegenheit gewartet, um den Sitz der Raubritter zu vernichten. Deren Widerstand wurde schnell gebrochen, zum Teil wurden sie gefangengenommen, zum Teil erschlagen. Der Harfner nahm das Getümmel um sich herum nicht wahr, er stand wie sinnesberaubt und starrte an die Stelle, wo seine Harfe verschwunden war.
Nach der Schlacht versammelte sich das Volk von Schlick auf der befreiten Burg und umgab den Alten. Nach einiger Zeit hatte er ihnen erzählt, was sich ereignet hatte. Er bat sie eindringlich, seine Harfe wiederzufinden, ohne die er nicht leben könne, und er versuchte den Rettern ihren erstaunlichen Klang zu beschreiben: "Sie hatte eine Stimme wie das Echo eines besseren Lebens, das wir uns nicht vorstellen können, eine Stimme, die den Kummer der Elendigen linderte und die Freude der Glücklichen stärkte. Sie hatte aber auch Töne, die wie glühender Stahl in die Herzen der Grausamen und Ungerechten eindrangen. Gebt mir meine Harfe zurück!"
Die Zauberharfe
Die Zauberharfe
Zuletzt geändert von Josef am Di 21. Aug 2007, 12:13, insgesamt 1-mal geändert.
Die Soldaten machten sich an das Werk der Zerstörung, wie es Sitte bei Eroberungen ist: Sie rissen die Burg nieder und ließen nur den höchsten Turm stehen. Dann ließen sie das Wasser aus dem Burgweiher heraus, um die Harfe wiederzufinden; ihr Eifer war jedoch vergeblich - sie war nicht auffindbar... Im Anschluß begab sich das Schlicksche Gefolge auf den Rückweg zur Burg Loket, und nahm den unglücklichen Greis mit sich, dessen Leben sich dem Ende entgegenneigte... und als dann die Nachtruhe kam, vernahm der Musikant auf einmal aus weiter Ferne die süße Melodie seiner geliebten Harfe. Sie kam von der Ruine der Burg Neudek, wo die Fee saß und spielte, und ihre Musik trug der Wind bis zum sterbenden Harfner. Als die Musik verstummte, sank der Harfner mit hingebungsvollem Lächeln zu Boden und verstarb mit Frieden in der Seele. In jenem Augenblick erklang die Zauberharfe noch ein letztes Mal, der dunkle Felsen tat sich auf, und die Fee, Botin der Gerechtigkeit, kehrte in ihr Schloß in den Tiefen der Erde zurück. Mit einem Donnern fiel der dunkle Felsen wieder zu, behielt jedoch für alle Zeiten die Gestalt des Kopfes jenes Harfenspielers.
Der Pfad gegenüber der Burgruine, an der Sohle des Berges (der früher Hirtenberg, dann Schützenberg und nun Kreuzberg genannt wird) wurde viele Jahrhunderte lang "die Allee der Klagen" genannt, weil man hier, so sagt man, zur Mitternacht die Klagen des alten Harfners hören kann, der nach seiner Harfe ruft. Auch aus dem Inneren des Burgfelsens erklingt noch immer, so sagt man, mitternächtlich ein dumpfes Getöse und der wundersame Klang der Harfe.
Quelle: "Die Zauberharfe - Sagen aus dem Karlsbader Gebiet",
im Original "Kouzelná harfa - Pověsti z Karlovarska" von
Dr. Stanislav Burachovič, Okresní kulturní středisko, Karlovy Vary 1989 (zweite Auflage).
Übersetzt aus dem Tschechischen von Josef Straka.
Heute ist von der Burg Neudek nur noch dieser Turm übrig:

(Burg Neudek)
Der Pfad gegenüber der Burgruine, an der Sohle des Berges (der früher Hirtenberg, dann Schützenberg und nun Kreuzberg genannt wird) wurde viele Jahrhunderte lang "die Allee der Klagen" genannt, weil man hier, so sagt man, zur Mitternacht die Klagen des alten Harfners hören kann, der nach seiner Harfe ruft. Auch aus dem Inneren des Burgfelsens erklingt noch immer, so sagt man, mitternächtlich ein dumpfes Getöse und der wundersame Klang der Harfe.
Quelle: "Die Zauberharfe - Sagen aus dem Karlsbader Gebiet",
im Original "Kouzelná harfa - Pověsti z Karlovarska" von
Dr. Stanislav Burachovič, Okresní kulturní středisko, Karlovy Vary 1989 (zweite Auflage).
Übersetzt aus dem Tschechischen von Josef Straka.
Heute ist von der Burg Neudek nur noch dieser Turm übrig:

(Burg Neudek)
Zuletzt geändert von Josef am Di 21. Aug 2007, 12:13, insgesamt 1-mal geändert.
Mich brauchst Du da nicht um Erlaubnis zu fragen, ich habe sie schließlich nicht erfunden, sondern nur übersetzt. (Und ich bin kein James MacPherson...)Peter Seitz hat geschrieben:Wenn Du erlaubst, dann übernehme ich sie in mein Programm Harfe und Märchen bei unseren Auftritten.
Daß die Harfner in Böhmen in historisch datierbare Volkssagen eingegangen sind, zeugt nochmal von ihrer langen jahrhundertelangen Präsenz im Volk...
Grüße
Josef